Von Dr. Matthias Soyka
Die Entwürfe zur neuen GOÄ haben bis jetzt nur wenige Leute zu Gesicht bekommen. Vor einigen Tagen fand eine erste Präsentation statt. Die Berufsverbände erhielten erstmals Einsicht in den neuen GOÄ-Entwurf, der von einer Projektgruppe aus Bundesärztekammer, Privatkassen und Beihilfestellen erarbeitet wurde. Jahrelang wurde dieser Entwurf unter Verschluss gehalten. Die wenigen Auserwählten, die Einsicht nehmen durften, mussten Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnen.
Soyka: "Es darf keine Verlierer geben!"
Wie Skeptiker schon erwartet hatten, führte die Vorstellung des Entwurfs bei einigen Berufsverbänden zu herben Enttäuschungen. Statt des seit Jahren überfälligen Inflationsausgleichs soll es für bestimmte Gruppen eine Kürzung ihrer Gebührensätze geben. Der radiologische Berufsverband sprach von einem Minus von 29 Prozent. Ich habe so etwas befürchtet. Es erinnert mich an zwei Geschichten, die fast so alt sind wie die alte GOÄ.
1984
1984 – genau rechtzeitig bevor ich meine erste Stelle als Assistenzarzt antrat, wurde das Gehalt für junge Assistenzärzte rigoros gekürzt. Statt wie bisher wurde ein Berufsanfänger nicht mehr nach BAT II, sondern nach BAT III bezahlt – für die ersten vier Jahre seiner Weiterbildung. Das ergab für die jungen Ärzte einige Tausend DM weniger Einkommen im Jahr. Der Marburger Bund hielt nicht dagegen, denn er befand sich gerade in einer Tarifgemeinschaft mit der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (jetzt in Verdi aufgegangen).
Kurze Zeit später wurden Berufseinsteiger durch eine Änderung der Approbationsordnung und die Einführung des „Arzt im Praktikums“ sogar auf ein Drittel des bisherigen Einstiegsgehaltes gedrückt. Auch dagegen gab es keinen Widerstand des Marburger Bundes und erst recht nicht der DAG oder der ÖTV.
Die Tariferhöhungen, die der Marburger Bund mit der DAK erzielte, waren viel zu gering. Dass zusätzlich noch die Gewerkschaft ÖTV im Krankenhaus tätig war und dort vor allem die Pflege in Konkurrenz zu den Ärzten setzte, machte die Sache nicht besser.
Mit dem Marburger Bund wollte ich persönlich deshalb über viele Jahre nichts zu tun haben. Zu ÖTV und DAG vertrat ich die Ansicht, dass man keine Feinde braucht, wenn man einen der beiden zum Freund und Tarifgenossen hat. Innerhalb der Kliniken erlebten junge Ärzte damals oft einen tief sitzenden Sozialneid aus Pflege und Verwaltung. Einbußen der Ärzte wurden hinter vorgehaltener Hand und teilweise auch völlig offen hämisch kommentiert.
Doch irgendwann kapierte es auch der Marburger Bund und kündigte die Tarifgemeinschaft mit der DAG bzw. Verdi auf. Die Emanzipation vom Sozialneid der anderen Berufsgruppen war der Beginn einer sehr erfolgreichen Tarifpolitik für die angestellten Ärzte. Der Marburger Bund gewann dadurch sehr viele Mitglieder – eine echte Erfolgsgeschichte! Diese setzt die Nachfolgegewerkschaft Verdi bis heute erheblich unter Stress. Jetzt ist das Geschrei groß - von Spartengewerkschaften und von nötiger Solidarität. Denn die Ärzte haben im Krankenhaus eine beeindruckende Streikmacht.
Die Gemeinsamkeit der Tarifpolitik damals zur heutigen GOÄ-Debatte besteht darin, dass in beiden Fällen die sogenannte „Solidargemeinschaft“ eine oder mehrere Gruppen aussucht, die man in Verhandlungen als Opfer präsentieren kann. Das kann man zwar machen – ich habe so etwas schon in Mafiafilmen gesehen – und es gibt Leute, die meinen, das sei normal bei der Verfolgung eines berechtigten Eigeninteresses. Jeder sei sich eben selbst der Nächste. Doch viel spricht dafür, dass auch die nicht geopferten Gruppen schon bald der Katzenjammer plagen wird.
Bekanntlich stammt die GOÄ aus dem Jahre 1982, seit 1996 wurden die Preise der GOÄ nicht mehr erhöht. Kein Wunder also, dass die überfällige Aktualisierung von allen Arztgruppen seit Jahren heiß ersehnt wird.
Unter dem realen Preisverfall litten besonders die Arztgruppen, die mit „sprechender Medizin“ ihr Geld verdienen, denn die Gesprächsziffern waren in der 96er-GOÄ von Anfang an besonders schlecht bewertet.
Es wäre daher nötig, gerecht und auch zu erwarten gewesen, dass in einer GOÄ-Aktualisierung die Gesprächsziffern besonders stark erhöht würden. Zwar hätte auch das möglicherweise bei anderen Arztgruppen das Gefühl von Ungerechtigkeit hervorgerufen und entsprechendes Gegrummel produziert.
Doch letzten Endes wäre die Korrektur für alle Ärzte irgendwie akzeptabel, wenn es für alle nur irgendeine Erhöhung geben würde.
Doch jetzt geschieht offensichtlich etwas völlig anderes. Statt der erhofften Erhöhung müssen sich viele Ärzte darauf gefasst machen, mit niedrigeren Einnahmen zurechtzukommen. Vor allem für diejenigen, die hohe Investitionen getätigt haben, dürfte die geplante Novelle zu einer existentiellen Bedrohung werden.
Die ärztlichen Autoren des neuen GOÄ-Entwurfs scheinen der Meinung zu sein, dass eine Erhöhung auf der einen Seite nur mit Kürzungen auf der anderen Seite infrage kommt. Das ist mehr als seltsam, denn bislang war die GOÄ eine freie Gebührenordnung eines freien Berufes. In dieser Gebührenordnung hatten die Gebühren, die ein Arzt in Rechnung stellte, mit denen seiner Kollegen nicht das Geringste zu tun. Anders als im EBM für die gesetzlich Versicherten, der von einer budgetierten Gesamtvergütung für alle Ärzte geprägt ist.
Die Seltsamkeit erklärt sich, wenn man die Prämisse des neuen GOÄ-Entwurfs bedenkt. Die daraus entstehenden Kosten sollen nur zu einer Erhöhung von 4,2 % der Gesamtkosten für die privaten Versicherer und die Beihilfestellen führen. Das geht nur, indem man die Gebührenordnung des noch freien Berufes der Ärzte genauso unter Budgetbedingungen stellt wie den kassenärztlichen EBM. Man muss nur wenig nachdenken, um zu erkennen, in welche gigantische, selbst gebastelte Falle die Ärzte damit tappen. Das ist ein grotesker Akt der Selbstzerstörung. Zumal der Köder, der in dieser Falle liegt, auch noch erbärmlich mickrig ist.
Wie bekannt wurde der Basispunktwert in der gesetzlichen Krankenversicherung soeben um 3,85 Prozent erhöht. Zu Recht reagierte der Spitzenverband der Fachärzte (SpiFA) mit Kopfschütteln auf diese geringe Erhöhung, die den Mehrbedarf durch die Preissteigerungen des letzten Jahres nicht annähernd abdecke. Doch was sind im Vergleich dazu die grandiosen 4,2 Prozent der neuen GOÄ?
Seit 1996 stiegen die Preise um 67 Prozent. Eine Erhöhung der Gesamtausgaben um 4,2 Prozent wäre also alles andere als ein fälliger Inflationsausgleich.
Wie verrückt ist es da, dass Ärztevertreter für diesen kleinen Brocken die freie Gebührenordnung zugunsten einer budgetierten Gesamtvergütung in den Schornstein schießen.
Die selbst gebastelte Falle enthält noch viele weitere Tücken, die eine getrennte Abhandlung verdienen. Doch die erste und schwerwiegendste Folge der GOÄ-Neu wäre die Auswirkung auf die Reste von ärztlicher Solidarität.
Alle diejenigen, die sich freuen, dass sie jetzt einen gerechteren Preis für ihre Arbeit erzielen, sollten bedenken, dass in den Gruppen, die dafür als Opfer der Einsparungen ausgewählt wurden, erhebliche Aggressionen entstehen dürften. Das gilt auch dann, wenn man der Meinung ist, die jetzt projizierten Einsparungen bei den Opfergruppen seien nur notwendige Korrekturen von Fehlentwicklungen oder Ungerechtigkeiten. Denn es wird ja nicht nach einem oder zwei Jahren ein besonderer Bonus wieder eingezogen. Die Preise der GOÄ existieren seit 28 Jahren, seit Jahren entsprechen sie nicht der Preisentwicklung. Alle erwarten mit Recht eine Erhöhung. Wenn jetzt einzelnen Opfergruppen gewohnte Einkommensbestandteile weggenommen werden sollen, die Kalkulationsgrundlagen für Investitionen und Kredite waren, bleibt das nicht ohne Folgen. Man muss kein Psychologe sein, um das in den Kürzungen enthaltene Aggressionspotential zu erkennen.
Es schadet aber auch nicht: Einer meiner Lieblingsautoren, der Wirtschaftspsychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann, prägte für das, was die Opfer empfinden werden, den Begriff „Verlustaversion“. Er fand heraus, dass Menschen Verluste höher bewerten als Gewinne.
Wenn es im Verlauf der GOÄ-Novellierung wirklich zu Einkommenseinbußen einzelner Gruppen kommen sollte, wäre das daher das endgültige Aus für die Restsolidarität, die es innerhalb der Ärzteschaft noch gibt. Gemeinsames Handeln, sei es in Bezug auf EBM, GOÄ, Bürokratiebelastung oder Digitalisierung dürfte es dann nicht mehr geben.
Die betroffenen Arztgruppen, sofern es sie dann noch gibt, würden hingegen mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Weg gehen wie damals der Marburger Bund – weg von sozialneidischen Gewerkschaften.
Momentan gibt es zwar überall Lippenbekenntnisse zur sprechenden Medizin. Doch das muss nicht so bleiben. Ich würde sogar darauf wetten, dass davon schon in kurzer Zeit bei Politik und Kassen keine Rede mehr sein wird. (Wenn es stimmt, dass in dem neuen GOÄ-Entwurf viele der neuen Preise unter den Preisen liegen, die durch die Kostenerstattung mit Analogziffern erzielt werden können, wäre der Verlust für die sprechende Medizin schon von Beginn an in die neue GOÄ eingebaut.)
In der Zukunft könnte die „Marktmacht“ durchaus wieder bei den Besitzern großer Geräte oder den Anbietern sehr spezieller ärztlicher Leistungen liegen. Dann könnte es den restlichen Ärzten so gehen wie jetzt der Pflege. Sie sind in ihrer Verhandlungsposition geschwächt, weil wichtige Leistungserbringer nicht mehr im Boot sind.
Selbst diejenigen Arztgruppen, die durch die Einführung der neuen GOÄ nur wenig verlieren, dürften aus der Kannibalisierung einzelner Gruppen ihre Schlüsse ziehen. Unter den Budgetbedingungen wird die Spaltung durch Neid und polemische Einwürfe von allen Seiten vollendet.
Deshalb sollte – egal was sonst in der neue GOÄ noch stehen mag – der wichtigste Grundsatz lauten: Es darf keine Verlierer geben! Keine Gruppe darf schlechter dastehen als zuvor!
19.09.2024, 08:32, Autor/-in: js
Quelle: https://www.aend.de/article/230979?loginreminder=true