Dysfunktionale Zwangsdigitalisierung und Unterfinanzierung - Spürbare Konsequenzen nötig

Offener Brief an die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Kassenärztlichen Vereinigungen

Sehr geehrter Herr Dr. Gassen, sehr geehrter Herr Dr. Hofmeister, sehr geehrte Frau Dr. Steiner,
sehr geehrte Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigungen in den Bundesländern,

Zunächst drücken wir gerne unsere Anerkennung für die professionell vorbereitete und ebenso durchgeführte Veranstaltung zum drohenden Kollaps der Praxen am 18.08.2023 aus. Kritische Punkte wie Unterfinanzierung, gedeckelte Budgets, Bürokratie, Personalmangel und dysfunktionale Digitalisierung sind angesprochen worden.

Jedoch kamen andere wichtige Themen leider nicht zur Sprache, etliche Fragen sind offen geblieben:

1) Darstellung der Anliegen für die Medien
Das Echo in den Medien war leider gering (Zeitungen wie die Süddeutsche verzichteten gleich ganz). Im „heute-journal“ ging es um die Argumentation des BMG, dass die Zahlungen der GKV an die niedergelassenen Ärzte seit 2013 um 44 Prozent gestiegen seien.
Das trifft nicht zu, bleibt aber in den Köpfen der Menschen hängen.

Praxiseinkünfte werden von der Politik häufig mit Arzteinkommen gleichgesetzt. Weisen Sie auch auf die vielen Milliarden Euro hin, die für die Digitalisierung von den Kassen über die Praxen an IT-Konzerne geflossen sind, ohne dass Patienten oder Praxen davon bisher einen Nutzen haben.

2) Zwangsdigitalisierung und Bedrohung der Schweigepflicht
Es reicht somit nicht, nur die Untervergütung in den Vordergrund zu stellen, um den drohenden Kollaps der Praxen deutlich zu machen. Bedenklich erscheinen eine zunehmende innere Kündigung und Demotivation der ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen, die nicht nur der finanziellen Situation geschuldet sind.

Die erzwungene Digitalisierung – von Dr. Monika Schliffke, Vorsitzende der KV Schleswig-Holsteins, am 18.08. zugespitzt, aber treffend als „digitale Vergewaltigung“ bezeichnet – belastet die niedergelassenen KollegInnen mit Honorarabzügen, Mehraufwand und Kosten.

Jetzt aber werden eRezept sowie eine Pflicht zur Übermittlung von Daten wieder sanktionsbehaftet eingeführt, ebenso die Weiterleitung an die Forschung und andere Daten-Sekundärnutzer.
Ursprünglich geplante Regelungen zum Forschungsgeheimnis sollen nun doch wegfallen
(„Abschied vom Patientengeheimnis“, heise.de am 10.08.2023).

Karl Lauterbach sprach im Juni bereits davon, Praxisgespräche zeitgleich mittels KI als strukturierte Daten weiterleiten zu wollen. In den Forderungen der KBV erscheint leider nur die dysfunktionale Telematik-infrastruktur, nicht aber die darüber hinaus gehende Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht durch den Anschluss an die TI.

Viele KollegInnen haben den Konnektor angeschafft, weil sie die Sanktionen vermeiden wollten, nicht weil sie einen Bedarf für die TI sehen.

3) Wie groß ist der Nutzen der Datenverwertung für die Forschung wirklich?
Die Daten aus Abrechnung und elektronischer Patientenakte sind, wie das IQWIG schon 2020 feststellte, kaum für qualitativ gute Forschung verwendbar. Auch andere VertreterInnen einer evidenzbasierten Medizin haben bereits mehrfach auf methodische Probleme und vermehrte Fehlerquellen durch Big-Data-Forschung hingewiesen.

Datenströme werden künftig nicht mehr nachvollziehbar. Es besteht die Gefahr, dass PatientInnen dadurch das Vertrauen verlieren und sich uns gegenüber nicht mehr öffnen (in den USA schon Realität). Das würde die Behandlungsqualität deutlich verschlechtern. Bitte weisen Sie öffentlich auch auf diese Aspekte hin!

4) Ausweg Privatpraxis oder Rente?
Viele niedergelassene ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen resignieren durch die genannten Faktoren, kündigen innerlich, geben ihre Praxen vorzeitig auf oder werden rein privatärztlich tätig.

Dies ist verständlich, kann aber nicht im Interesse der KVen sein. Diese KollegInnen fehlen in der Patientenversorgung. Zudem sollten wir die Versorgung sozial schwacher PatientInnen nicht Gesundheitskiosken überlassen, die jetzt unnötigerweise eingeführt werden sollen. Diese können die Praxen nicht ersetzen!

5) Forderungen
Künftige Aktionen müssen aufrütteln und wehtun!
Spezielle Vertreterversammlungen oder die Empfehlung für PatientInnen, sich an ihre Landtags- und Bundestagsabgeordneten zu wenden, werden keine durchschlagende Wirkung haben. Praxisschließungen an einem Brückentag werden die Politik nicht überzeugen.

Bundesgesundheitsminister Lauterbach äußerte am 18.8.23 auf Twitter: “Im Bereich der Hausärzte ist eine Aufhebung des Budgets durchaus denkbar…In den Praxen brauchen wir weniger Bürokratie und mehr Digitalisierung, die funktioniert“. Momentan bewirkt letztere jedoch mehr Aufwand und Bürokratie.

Verlangen Sie daher von ihm konkrete Maßnahmen statt vager Ankündigungen, und Angaben, wann und wie das alles passieren soll!

Fordern Sie eine angemessene Vergütung für die Praxen zum Kosten- und Inflationsausgleich, aber auch für eine bessere Bezahlung unserer MFA’s, um die Attraktivität des Berufs zu erhöhen!

Die TI-Sanktionen müssen weg! Wir brauchen funktionierende digitale Tools mit Mehrwert und freiwilliger Nutzung!

Die Regresse müssen abgeschafft werden! Wir sind trotzdem einem wirtschaftlichen Handeln verpflichtet.

6) Konsequenzen
Richtigerweise wurde am 18.08. festgestellt, dass diese Veranstaltung nur ein erster Schritt ist, der Urvertrag gebrochen ist, und Politiker sich nun warm anzuziehen hätten.

Zur Durchsetzung der Forderungen bei ausbleibender politischer Reaktion wären als Maßnahmen denkbar:
- „Fortbildungswoche(n)“ mit von KVen und Berufsverbänden organisierten Online- und
Präsenzfortbildungen sowie Eigenstudium, mit parallel nur minimaler Notversorgung,
- keine Anwendung von eRezept und eAU sowie keine ePA-Befüllung, solange die Forderungen zur Digitalisierung nicht erfüllt sind.
  - Beendigung des Honorarabzuges wegen Nichtanschluss an die TI, um die medizinische Versorgung im Rahmen des Sicherstellungsauftrages aufrecht erhalten zu können (eine entsprechende Stellungnahme hatte die Rechtsabteilung der KBV in der Vergangenheit erarbeitet).

Viele Möglichkeiten, berechtigte Forderungen durchzusetzen, wird es nicht mehr geben, dafür sind schon zu viele frühere, zum Teil ähnliche Aktionen verpufft.

Daher bitten wir Sie, bestmöglich Einigkeit in der Ärzteschaft herzustellen – über alle Fachgruppen hinweg – und die Proteste mit klaren Forderungen sowie spürbaren Konsequenzen fortzuführen, selbst für den Fall, dass man damit der Grenze dessen, was eine Kassenärztliche Vereinigung tun kann und darf, nahekommt!
 
Mit besten kollegialen Grüßen
 
Dr. Andreas Meißner, Psychiater, München, für das
Bündnis für Datenschutz und Schweigepflicht (BfDS)

Wieland Dietrich, Dermatologe, Essen, für die
Freie Ärzteschaft (FÄ)
 
Dr. Norbert Smetak, Internist, Kirchheim, für
MEDI Baden-Württemberg

Dr. Christian Messer, Facharzt für Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie, Berlin, für
MEDI Berlin-Brandenburg
 
Dr. Wolfgang Bärtl, Orthopäde, Neumarkt, für den
Bayerischen Facharztverband (BFAV)

Dr. Ilka Enger, Internistin, Neutraubling, für die
Interessengemeinschaft Medizin (IG Med)
 
Reinhild Temming, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Dortmund, für das Kompetenznetz Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie Westfalen-Lippe (KKJP WL)

Dr. Christian Messer, Facharzt für Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie, Berlin, für den
Bundesverband Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie (BDPM)

Dieter Adler, Psychologischer Psychotherapeut, Bonn, für das
Deutsche Psychotherapeuten-Netzwerk (DPNW)

Dr. Hildgund Berneburg, Fachärztin für psycho- somatische Medizin, Würzburg, für die Vereinigung psychotherapeutisch und psychosomatisch tätiger Kassenärzte

Ansprechpartner/V.i.S.d.P.: Dr. Andreas Meißner, BfDS, München

  • Eingeschränkte Leistungen für gesetzlich Versicherte, da die Kriterien der "notwendigen und ausreichenden" Versorgung nach dem Sozialgesetzbuch künftig noch strenger anzuwenden seien
  • Einschränkung von Sprechstundenzeiten für GKV-Versicherte mit weiter zunehmenden Wartezeiten - eine 4-Tage-Woche wurde bereits diskutiert
  • Ausrichtungen der Vertragsarztpraxen weg von der Kassen- und hin zur Privatmedizin

Quelle:
https://freie-aerzteschaft.de

Über die Freie Ärzteschaft e.V.
Die Freie Ärzteschaft e. V. (FÄ) ist ein Verband, der den Arztberuf als freien Beruf vertritt. Er wurde 2004 gegründet und zählt heute mehr als 2.000 Mitglieder: vorwiegend niedergelassene Haus- und Fachärzte sowie verschiedene Ärztenetze. Vorsitzender des Bundesverbandes ist Wieland Dietrich, Dermatologe in Essen. Ziel der FÄ ist eine unabhängige Medizin, bei der Patient und Arzt im Mittelpunkt stehen und die ärztliche Schweigepflicht gewahrt bleibt.

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V. i. S. d. P: Wieland Dietrich, Freie Ärzteschaft e.V., Vorsitzender, Gervinusstraße 10, 45144 Essen, Tel.: 0201 68586090, mail@freie-aerzteschaft.de, https://freie-aerzteschaft.de

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Heft 109 | Ausgabe 3 – August 2023
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